1000 Leben‍

Ich sitze im Zug und höre ein Interview mit der Rapperin Ebow. Bäume ziehen an mir vorbei. Ebow erzählt von ihrer Kindheit in alevitischen Vereinslokalen. Vögel fliegen davon. In ihren jungen Jahren finden immer wieder Anschläge auf Vereinslokale statt. Die Sonne verschwindet hinter den Wolken. Einmal hört sie an so einer Versammlung, wie Erwachsene über einen kürzlich verübten Anschlag sprechen. Verwelkte Blätter fliegen durch die Luft. Es wird ihr schmerzlich bewusst, dass es Menschen gibt, die sie hassen, weil sie so ist, wie sie ist. Es gibt Menschen, die sie hassen, ohne sie je gesehen zu haben und zu kennen. Starker Wind biegt hohe Gräser zur Seite. Danach hat sie Angst, an Veranstaltungen ins alevitische
Lokal zu gehen. Sie hat Bilder im Kopf, wie Leute das Lokal stürmen. Deswegen malt sie sich jeweils Fluchtwege aus, wie sie und ihre Bekannten das Haus verlassen könnten. Die Sonne versucht durch die dichten Wolken hindurch zu dringen. Tränen kommen in mir auf.

Wir sitzen nun am Gruppentisch und wollen gerade mit einer neuen Matheaufgabe beginnen.  

Amir: «Woher kommen Sie eigentlich?»

Ich: «Von hier.»  

Amir zu Blerim: «Siehst du, ich
habe es dir ja gesagt.«

Blerim: «Wir haben das eben wegen Ihrem Namen gefragt.»  

Ich: «Ah, mein Name ist persisch. Mein Vater ist aus dem Iran in die Schweiz
geflüchtet. Meine Eltern haben sich in der Schweiz kennen gelernt. Ich bin
hier geboren und hier aufgewachsen.»

Blerim: «Aha. Dann ist es bei Ihnen wie bei mir. Mein Vater ist
in Albanien geboren, meine Mutter in der Schweiz. Also bin ich dann auch von hier, oder?»

Ich: «Wenn du mich das fragst, sage ich ganz klar, natürlich bist du von hier!
Du bist hier geboren, hier wächst du auf, hier gehst du zur Schule. Woher sollst
du sonst kommen, wenn nicht von hier?

Aber grundsätzlich bestimmt jede Person selber, was sie auf die Frage, woher sie kommt, antwortet.
Wenn ich Kinder in der Schule kennenlerne, frage ich mich nicht, woher dieses Kind kommt.
Mich interessiert es mehr, womit du dich beschäftigst, was du gerne hast und was du in deiner Freizeit
gerne machst und was nicht. Dann weiss ich wirklich etwas über dich als Menschen, als Blerim.»

Amir und Blerim nicken und sagen: «Sie haben voll Recht. Schade, fragen nicht alle Leute so.»

Wir lassen die Mathematik
und sammeln stattdessen zusammen Fragen, durch die wir wirklich
etwas über eine andere Person erfahren.

Welche Sprachen sprichst du?
Wohin bist du schon gereist?
Welchen Sport machst du?
Welche Musik hörst du gerne?
Was ist dein Lieblingsessen?
Was machst du in deiner Freizeit?
Gamest du?
Wovon träumst du?
Welchen Beruf willst du einmal ausüben?
Welche Person bewunderst du?

Die Stunde neigt sich langsam dem Ende entgegen. Wir merken alle, dass wir uns durch die Antworten auf diese
Fragen besser kennen gelernt haben. Wir haben eine Vorstellung davon, welches Kind und welche Erwachsenen uns gegenübersitzen. Was wir für Personen sind und womit wir uns beschäftigen.  

«In mir drinnen stecken 1000 Leben
1000 Leben
1000 Leben
Hab Flure geputzt
Häuser gebaut
Wurde ausgenutzt
Wurde ausgesaugt
Ihr habt nie an mich geglaubt
Ich war immer was ihr braucht
Ihr habt nie an uns geglaubt
Wir waren immer, was ihr braucht»

‍aus dem Song K4L von Ebow

Maryam Darvishbeigi, Heilpädagog*in

Ich sitze im Zug und höre ein Interview mit der Rapperin Ebow. Bäume ziehen an mir vorbei. Ebow erzählt von ihrer Kindheit in alevitischen Vereinslokalen. Vögel fliegen davon. In ihren jungen Jahren finden immer wieder Anschläge auf Vereinslokale statt. Die Sonne verschwindet hinter den Wolken. Einmal hört sie an so einer Versammlung, wie Erwachsene über einen kürzlich verübten Anschlag sprechen. Verwelkte Blätter fliegen durch die Luft. Es wird ihr schmerzlich bewusst, dass es Menschen gibt, die sie hassen, weil sie so ist, wie sie ist. Es gibt Menschen, die sie hassen, ohne sie je gesehen zu haben und zu kennen. Starker Wind biegt hohe Gräser zur Seite. Danach hat sie Angst, an Veranstaltungen ins alevitische
Lokal zu gehen. Sie hat Bilder im Kopf, wie Leute das Lokal stürmen. Deswegen malt sie sich jeweils Fluchtwege aus, wie sie und ihre Bekannten das Haus verlassen könnten. Die Sonne versucht durch die dichten Wolken hindurch zu dringen. Tränen kommen in mir auf.

Wir sitzen nun am Gruppentisch und wollen gerade mit einer neuen Matheaufgabe beginnen.  

Amir: «Woher kommen Sie eigentlich?»

Ich: «Von hier.»  

Amir zu Blerim: «Siehst du, ich
habe es dir ja gesagt.«

Blerim: «Wir haben das eben wegen Ihrem Namen gefragt.»  

Ich: «Ah, mein Name ist persisch. Mein Vater ist aus dem Iran in die Schweiz
geflüchtet. Meine Eltern haben sich in der Schweiz kennen gelernt. Ich bin
hier geboren und hier aufgewachsen.»

Blerim: «Aha. Dann ist es bei Ihnen wie bei mir. Mein Vater ist
in Albanien geboren, meine Mutter in der Schweiz. Also bin ich dann auch von hier, oder?»

Ich: «Wenn du mich das fragst, sage ich ganz klar, natürlich bist du von hier!
Du bist hier geboren, hier wächst du auf, hier gehst du zur Schule. Woher sollst
du sonst kommen, wenn nicht von hier?

Aber grundsätzlich bestimmt jede Person selber, was sie auf die Frage, woher sie kommt, antwortet.
Wenn ich Kinder in der Schule kennenlerne, frage ich mich nicht, woher dieses Kind kommt.
Mich interessiert es mehr, womit du dich beschäftigst, was du gerne hast und was du in deiner Freizeit
gerne machst und was nicht. Dann weiss ich wirklich etwas über dich als Menschen, als Blerim.»

Amir und Blerim nicken und sagen: «Sie haben voll Recht. Schade, fragen nicht alle Leute so.»

Wir lassen die Mathematik
und sammeln stattdessen zusammen Fragen, durch die wir wirklich
etwas über eine andere Person erfahren.

Welche Sprachen sprichst du?
Wohin bist du schon gereist?
Welchen Sport machst du?
Welche Musik hörst du gerne?
Was ist dein Lieblingsessen?
Was machst du in deiner Freizeit?
Gamest du?
Wovon träumst du?
Welchen Beruf willst du einmal ausüben?
Welche Person bewunderst du?

Die Stunde neigt sich langsam dem Ende entgegen. Wir merken alle, dass wir uns durch die Antworten auf diese
Fragen besser kennen gelernt haben. Wir haben eine Vorstellung davon, welches Kind und welche Erwachsenen uns gegenübersitzen. Was wir für Personen sind und womit wir uns beschäftigen.  

«In mir drinnen stecken 1000 Leben
1000 Leben
1000 Leben
Hab Flure geputzt
Häuser gebaut
Wurde ausgenutzt
Wurde ausgesaugt
Ihr habt nie an mich geglaubt
Ich war immer was ihr braucht
Ihr habt nie an uns geglaubt
Wir waren immer, was ihr braucht»

‍aus dem Song K4L von Ebow

Maryam Darvishbeigi, Heilpädagog*in

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