Zu Hause in Der Fremde

Du bist ein Baum - woher kommst du?

Im Kindergarten hatte ich eine liebenswürdige Lehrerin: sie hat mich als Tannenbaum verkleidet, eine braune Hose, ein dunkelgrüner Filzhut für den Kopf, vermutlich hat sie auch mein Gesicht grün geschminkt, ich sollte eine Rolle haben, im Schneewittchen, und zwar als Tannenbaum, ich stand da und sah den Zwergen zu und natürlich dem schönen Schneewittchen, aber was anderes als ein Tannenbaum hätte ich sein sollen, da ich kein Deutsch, sondern "nur" Ungarisch sprach? Meine Lehrerin versuchte mich zu integrieren, ins Spiel, wie man heute sagen würde, und ich? Ich schämte mich in meinem Baumkostüm, schämte mich für meine Stummheit, dafür, dass ich bloss dastand, was in meiner Erinnerung eine Ewigkeit dauerte, aber den Unterschied hatte ich ziemlich genau begriffen, zwischen den Zwergen, dem Schneewittchen und dem Baum. Ich weiss auch nicht mehr, ob es noch andere Bäume gab; ich jedenfalls stand einen Baum, und diese kleine Geschichte, die fast schon eine lustige Anekdote geworden ist, ist meine erste Erinnerung daran, dass ich mich ausgeschlossen fühlte, und ironischerweise wurde dieses Gefühl von Ausgeschlossensein von einer Lehrerin herbeigeführt, die ganz bestimmt eine gegenteilige Absicht hatte.

Ziemlich sicher hatte ich als fünfjähriges Kind nur einen brennenden Wunsch, nämlich den, so zu sein wie alle anderen; ich wollte nicht unbedingt Schneewittchen sein, aber doch ein Zwerg. Ausserdem wollte ich um nichts in der Welt die weisse, an den Ärmeln und am Kragen farbig bestickte Bluse tragen; ich wehrte mich also gegen folkloristische Kleidung, nicht nur, weil die anderen nichts derartiges trugen (und das habe ich schon im Kindergarten registriert, als das Tragen der "richtigen" und "falschen" Kleider noch nicht Teil der Hackordnung war), sondern, weil ich merkte, wie wichtig diese Staffage für meine Eltern war.

Einen ähnlichen, ausschliessenden Effekt hatten später Fragen wie "woher kommst du?" Diese Frage wurde mir meistens gestellt, wenn jemand meinen Namen geschrieben sah oder ich meinen Familiennamen nennen musste - die Frage nach dem Namen und der Herkunft sind die ersten Fragen eines Verhörs, das habe ich spätestens nach der Lektüre von Elias Canettis Masse und Macht begriffen -, und ich sah oft in erstaunte Gesichter, wenn ich verraten hatte, woher ich kam, aus Jugoslawien?
Wenn ich nun differenziert von meiner Herkunft zu erzählen anfing, dass ich nämlich aus der Vojvodina stammte und dass in diesem Gebiet, das die Kornkammer Serbiens genannt wurde, zahlreiche Volksgruppen lebten, nämlich Serben, Slowaken, Kroaten, Ruthenen, Rumänen, Bunjewatzen, Schokatzen, Sinti und Roma, Deutsche, Bulgaren und ausserdem Ungarn, zu deren Volksgruppe meine Familie gehörte, wenn ich nun das Stichwort "Ungarn" und "ungarische Muttersprache" geliefert habe, entspannte sich das Gesicht meines Gegenübers und in meinem Gesicht wurden die breiten Wangenknochen erkannt, in meinen Adern musste feuriges Blut fliessen, mein Gegenüber schwärmte von der Puszta, überhörte mit einer anmutigen Penetranz, dass ich weder die Puszta kannte noch die tollen Thermalbäder in Budapest, sein Ohr war taub für die Tatsache, dass das kommunistische Regime in Ungarn mit dem sozialistischen in Jugoslawien nur in beschränktem Masse vergleichbar war.
Worauf ich hinaus will: die Frage nach der Herkunft ist sehr oft ein paternalistischer Akt. Der Fragende bindet den Befragten an das Land seiner Herkunft, wobei die Differenzierung keinen Platz hat, es soll nicht zu kompliziert sein, und ein vertraut erscheinendes Stichwort ist Anlass genug, um die Bilderwand im eigenen Kopf zu bestätigen. Habe ich die Frage "woher kommst du" mit "aus Zürich, aus dem Kreis 4" beantwortet, dann wurde oft lachend nachgehakt, "ja schon, aber woher kommst du ursprünglich?"
Ursprünglich war ich in einem winzigen, weissen Haus mit Dachboden, Innenhof, Hühner- und Schweinestall, Miststock und Garten zu Hause; meine Herkunft ist an meine Grossmutter geknüpft, eng und unauflösbar, und als ich zu meinen Eltern in die Schweiz gekommen bin, habe ich nicht Jugoslawien verlassen oder Zenta, sondern meine Grossmutter, ihr Haus und ihre Lebenswelt. Das ist die korrekte Antwort auf die Frage nach meiner ursprünglichen Herkunft.

Der Versuch, anzukommen, da zu sein, wo man ist, wird mit der ständigen Rückbindung an das Land, das man verlassen hat, erschwert. Die Erzählung, dass man gar nicht an ein Land gebunden ist, sondern an eine Person und deren Lebenswelt, ist eine Realität, die dem Mythos des Volkes und der Nation nicht dienlich ist, aber zumindest der Wirklichkeit meiner Geschichte nahe kommt. Als ich in die Schweiz kam, hatte ich meine Lebenswirklichkeit verloren, und wichtiger, integraler Bestandteil dieses Verlustes war jener der ungarischen Sprache. Von einem stummen Kind verwandelte ich mich dann in ein lesendes, das Erlernen des Hochdeutschen, der Sprache der Bücher, war ein wichtiger Einschnitt in meinem Leben: ich hatte eine Sprache gefunden, die mich beflügelte. Und wahrscheinlich war das Hochdeutsche dafür verantwortlich, dass ich anfing, mich zu Hause zu fühlen.

Alice im Wunderland

Von der vierten bis zur sechsten Primarschule hatte ich einen Lehrer, dessen Lieblingsspiel das folgende war: er stellte eine Rechenaufgabe. Wenn man die Lösung nicht wusste, musste man aufstehen, wenn man die Lösung beim zweiten Mal auch nicht wusste, musste man sich auf den Stuhl stellen und schliesslich, beim dritten Mal, auf den Tisch. Es waren immer dieselben Schüler, die am Schluss auf dem Tisch standen, schämt euch, sagte der Lehrer. Manchmal schlug er auch zu. Der Lehrer hatte einen guten Ruf, er galt als "streng", und ich hatte Glück, weil ich seine nach rechts drängende Schrift fast perfekt imitieren konnte – es machte ihn rasend, wenn man anders schrieb als er – und weil ich zu den Besten der Klasse gehörte. Der Lehrer riet meinen Eltern trotzdem, mich nicht aufs Gymnasium zu schicken, ich sei noch zu klein, so argumentierte er. Ich war tatsächlich die Kleinste der Klasse. Die Schülerinnen und Schüler, die seiner Meinung nach reif genug waren fürs Gymnasium, stammten alle aus reichem Haus, und der Lehrer bereitete sie in Extrastunden auf die Übertrittsprüfung vor. Für mich war dennoch klar, dass ich die Prüfung wenigstens versuchen wollte, und ich traf mich zum Lernen mit einer Schulfreundin – übrigens die Grösste der Klasse –, welche vom Lehrer auch nicht für förderungswürdig gehalten wurde; sie hatte ein hohles Kreuz, so wie er, und ihre Mutter war geschieden, eine Tatsache, auf die der Lehrer in Schulstunden immer wieder hinwies. Als ich irgendwann später eine Stelle aus "Alice im Wunderland" las, kam es mir so vor, als würde mir jemand in wenigen Sätzen erklären, was die Essenz dieser drei Schuljahre gewesen war. "Die Frage ist", sagte Humpty-Dumpty, "wer der Herr sein soll. Das ist alles."Warum sind Kinder ausländischer Familien an Gymnasien immer noch eine Seltenheit? Die Einwanderer kümmerten sich nicht um die Bildungschancen ihrer Kinder, so heisst eine gängige Antwort. Gerade die Familien, die kulturell benachteiligt und Opfer der sozialen Ungleichheit sind, glaubten am stärksten daran, dass Begabung und Tüchtigkeit die einzig Ausschlag gebenden Faktoren für den Schulerfolg seien, schreibt der Soziologe Pierre Bourdieu – was sicher nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Manche Lehrer scheinen immer noch nicht begriffen zu haben, dass jedes Fach sprachlich vermittelt wird. Eltern, die in der Gesellschaft privilegierte Positionen haben, treten gegenüber einer Lehrperson selbstbewusst auf, wogegen nichts einzuwenden ist, ausser, wenn es die Lehrperson derart beeinflusst, dass sie das betreffende Kind in der Folge anders behandelt.  

Fremd gehen - mit der Sprache

Die Frage nach meiner Herkunft habe ich in jüngster Vergangenheit mit "eine ungarische Serbin, die in der Schweiz lebt", beantwortet. Diese Bezeichnung ist so präzise, dass sie in Bezug auf nationalstaatliche Einengungen unüberhörbar ironisch ist, sprachlich jedoch ist sie ein Bekenntnis zur Mehrsprachigkeit und, um noch ein bisschen weiter zu gehen, ein Bekenntnis zur Vielstimmigkeit, die ich in meinem Roman "Tauben fliegen auf " herauszuarbeiten versucht habe.Mit Leidenschaft habe ich ungarische Redewendungen ins Deutsche übertragen. Schlechte Laune haben heisst dann, der Tag muss heute ohne mich auskommen, oder: heute habe ich die Laune eines alten Hundes.Bei Marieluise Fleissers Prosa war von bayrischer Diktion die Rede, mir würde gefallen, wenn man, in Analogie dazu, bei meiner Prosa von Jugo-Diktion und finno-ugrischer Diktion, von mehrsprachiger Polyphonie spräche; mir ist daran gelegen, dass man meine Figuren hört, wie sie sprechen, egal, wo sie herkommen. Es scheint mir nichts als logisch zu sein, dass ich als Dichterin den Leuten auf Maul schaue, und ich freue mich, wenn ich spitzmäulige Münder sehe, die "Chrüsimüsi" sagen oder "chrümschele". Ich habe auch keinen Schweissausbruch allein wegen der Tatsache, dass man im Hochdeutschen "Gemüse putzen" und nicht "Gemüse rüsten" sagt. Trotz meinem Interesse am mündlichen Ausdruck, an der Figurenrede, habe ich eine Kunstsprache kreiert, nicht zuletzt auch deshalb, weil ich nicht weiss, wie ich das Stammeln, mehrfach abgebrochene Sätze, und vor allem das Schweigen und rollende Augen aufs Papier bringen soll. Als Kunstsprachliebende klopfe ich nun Wörter ab – warum sollen Begriffe wie "Balkankrieg" fraglos existieren, als gehörte Balkan und Krieg fast schon auf eine natürliche Art zusammen. Ich schreibe Sätze wie "ich ärgere mich, über sie, die ich bin", und man könnte schlussfolgern, dass ich mit dieser Art von Sprachbewegung einen Entfremdungsprozess auf den Punkt bringe.Es liegt also auf der Hand, dass mich Begriffe wie "Helvetismus", "Austriazismus" etc. mehr als irritieren. Ich habe nämlich kein Sprachideal (ausser vielleicht, dass es schön ist, beglückend, wenn Sprache, das Sprechen, hartnäckiges Schweigen durchbricht). Ich bin zugegebenermassen mehr als vorsichtig, wenn man eine sprachliche Klassengesellschaft herstellen möchte – immer noch! –, ich habe nichts übrig für eine deutsche Sprachleitkultur, ich liebe, wie schon gesagt, Färbungen, Tonalitäten. Dein Deutsch klingt wie Ungarisch und untergründig höre ich eine schweizerdeutsche Melodie, sagte meine Schwester über mein Schreiben, und das habe ich als Kompliment verstanden.Migration, Fremdsein, Anpassung, Integration – das sind alles Begriffe, die ich in meinem Text gar nicht oder nie unkommentiert gebraucht habe. In der Rezeption des Romans tauchen sie sehr häufig auf.

Zum Abschluss: der Stuhl sieht uns

Ich plädiere für eine Gesellschaft, die deren Vielfalt anerkennt. Ich distanziere mich vom Begriff "Integration" und von altbackenen Integrationskonzepten, die eine Anpassungsleistung der ausländischen Bevölkerung an die einheimische verlangen; die defizitär abgestempelten Ausländer sollen Sprachkurse besuchen, sich schulen im Wissen um "einheimische Werte". Hierbei ist natürlich unklar, wo gerade der perfekte Durchschnittsdeutsche rumspaziert, der dem patriarchalen, ausländischen Vater zum idealen Vorbild gereicht. Migrationskinder sind per definitionem prügelnde Jungs oder passive, Kopftuch tragende Mädchen, wenn sie nicht bilinguale Kinder sind, die "unsere Gesellschaft" bereichern, wie neulich eine Schweizer Wochenzeitung titelte und damit einmal mehr, auch wenn es positiv gemeint war, die Differenz zwischen einem "wir" und den "anderen" festgeschrieben hat. "Unsere Gesellschaft" existiert nicht und hat noch nie existiert, davon gehe ich aus, und dass in der Schweiz, einem international verflochtenen Kleinstaat, eine straff organisierte, Ressentiments schürende Truppe den Ton angibt, Ressentiments gegen die Ausländer schürt (jüngstes, sprechendes Beispiel: die "Ausschaffungsinitiative") und dabei demokratische Grundwerte aushöhlt – das ist alles andere als beruhigend, und dabei ist die Schweiz nur ein Beispiel für die gegenwärtigen Ideologen, die rückwärts in die Zukunft rennen wollen.

Melinda Nadj Abonji
Veröffentlicht in: SPRITZ (Sprache im Technischen Zeitalter). No. 198, Berlin 2011. Ein Auszug daraus erschien in der Süddeutschen Zeitung im März 2011.

Du bist ein Baum - woher kommst du?

Im Kindergarten hatte ich eine liebenswürdige Lehrerin: sie hat mich als Tannenbaum verkleidet, eine braune Hose, ein dunkelgrüner Filzhut für den Kopf, vermutlich hat sie auch mein Gesicht grün geschminkt, ich sollte eine Rolle haben, im Schneewittchen, und zwar als Tannenbaum, ich stand da und sah den Zwergen zu und natürlich dem schönen Schneewittchen, aber was anderes als ein Tannenbaum hätte ich sein sollen, da ich kein Deutsch, sondern "nur" Ungarisch sprach? Meine Lehrerin versuchte mich zu integrieren, ins Spiel, wie man heute sagen würde, und ich? Ich schämte mich in meinem Baumkostüm, schämte mich für meine Stummheit, dafür, dass ich bloss dastand, was in meiner Erinnerung eine Ewigkeit dauerte, aber den Unterschied hatte ich ziemlich genau begriffen, zwischen den Zwergen, dem Schneewittchen und dem Baum. Ich weiss auch nicht mehr, ob es noch andere Bäume gab; ich jedenfalls stand einen Baum, und diese kleine Geschichte, die fast schon eine lustige Anekdote geworden ist, ist meine erste Erinnerung daran, dass ich mich ausgeschlossen fühlte, und ironischerweise wurde dieses Gefühl von Ausgeschlossensein von einer Lehrerin herbeigeführt, die ganz bestimmt eine gegenteilige Absicht hatte.

Ziemlich sicher hatte ich als fünfjähriges Kind nur einen brennenden Wunsch, nämlich den, so zu sein wie alle anderen; ich wollte nicht unbedingt Schneewittchen sein, aber doch ein Zwerg. Ausserdem wollte ich um nichts in der Welt die weisse, an den Ärmeln und am Kragen farbig bestickte Bluse tragen; ich wehrte mich also gegen folkloristische Kleidung, nicht nur, weil die anderen nichts derartiges trugen (und das habe ich schon im Kindergarten registriert, als das Tragen der "richtigen" und "falschen" Kleider noch nicht Teil der Hackordnung war), sondern, weil ich merkte, wie wichtig diese Staffage für meine Eltern war.

Einen ähnlichen, ausschliessenden Effekt hatten später Fragen wie "woher kommst du?" Diese Frage wurde mir meistens gestellt, wenn jemand meinen Namen geschrieben sah oder ich meinen Familiennamen nennen musste - die Frage nach dem Namen und der Herkunft sind die ersten Fragen eines Verhörs, das habe ich spätestens nach der Lektüre von Elias Canettis Masse und Macht begriffen -, und ich sah oft in erstaunte Gesichter, wenn ich verraten hatte, woher ich kam, aus Jugoslawien?
Wenn ich nun differenziert von meiner Herkunft zu erzählen anfing, dass ich nämlich aus der Vojvodina stammte und dass in diesem Gebiet, das die Kornkammer Serbiens genannt wurde, zahlreiche Volksgruppen lebten, nämlich Serben, Slowaken, Kroaten, Ruthenen, Rumänen, Bunjewatzen, Schokatzen, Sinti und Roma, Deutsche, Bulgaren und ausserdem Ungarn, zu deren Volksgruppe meine Familie gehörte, wenn ich nun das Stichwort "Ungarn" und "ungarische Muttersprache" geliefert habe, entspannte sich das Gesicht meines Gegenübers und in meinem Gesicht wurden die breiten Wangenknochen erkannt, in meinen Adern musste feuriges Blut fliessen, mein Gegenüber schwärmte von der Puszta, überhörte mit einer anmutigen Penetranz, dass ich weder die Puszta kannte noch die tollen Thermalbäder in Budapest, sein Ohr war taub für die Tatsache, dass das kommunistische Regime in Ungarn mit dem sozialistischen in Jugoslawien nur in beschränktem Masse vergleichbar war.
Worauf ich hinaus will: die Frage nach der Herkunft ist sehr oft ein paternalistischer Akt. Der Fragende bindet den Befragten an das Land seiner Herkunft, wobei die Differenzierung keinen Platz hat, es soll nicht zu kompliziert sein, und ein vertraut erscheinendes Stichwort ist Anlass genug, um die Bilderwand im eigenen Kopf zu bestätigen. Habe ich die Frage "woher kommst du" mit "aus Zürich, aus dem Kreis 4" beantwortet, dann wurde oft lachend nachgehakt, "ja schon, aber woher kommst du ursprünglich?"
Ursprünglich war ich in einem winzigen, weissen Haus mit Dachboden, Innenhof, Hühner- und Schweinestall, Miststock und Garten zu Hause; meine Herkunft ist an meine Grossmutter geknüpft, eng und unauflösbar, und als ich zu meinen Eltern in die Schweiz gekommen bin, habe ich nicht Jugoslawien verlassen oder Zenta, sondern meine Grossmutter, ihr Haus und ihre Lebenswelt. Das ist die korrekte Antwort auf die Frage nach meiner ursprünglichen Herkunft.

Der Versuch, anzukommen, da zu sein, wo man ist, wird mit der ständigen Rückbindung an das Land, das man verlassen hat, erschwert. Die Erzählung, dass man gar nicht an ein Land gebunden ist, sondern an eine Person und deren Lebenswelt, ist eine Realität, die dem Mythos des Volkes und der Nation nicht dienlich ist, aber zumindest der Wirklichkeit meiner Geschichte nahe kommt. Als ich in die Schweiz kam, hatte ich meine Lebenswirklichkeit verloren, und wichtiger, integraler Bestandteil dieses Verlustes war jener der ungarischen Sprache. Von einem stummen Kind verwandelte ich mich dann in ein lesendes, das Erlernen des Hochdeutschen, der Sprache der Bücher, war ein wichtiger Einschnitt in meinem Leben: ich hatte eine Sprache gefunden, die mich beflügelte. Und wahrscheinlich war das Hochdeutsche dafür verantwortlich, dass ich anfing, mich zu Hause zu fühlen.

Alice im Wunderland

Von der vierten bis zur sechsten Primarschule hatte ich einen Lehrer, dessen Lieblingsspiel das folgende war: er stellte eine Rechenaufgabe. Wenn man die Lösung nicht wusste, musste man aufstehen, wenn man die Lösung beim zweiten Mal auch nicht wusste, musste man sich auf den Stuhl stellen und schliesslich, beim dritten Mal, auf den Tisch. Es waren immer dieselben Schüler, die am Schluss auf dem Tisch standen, schämt euch, sagte der Lehrer. Manchmal schlug er auch zu. Der Lehrer hatte einen guten Ruf, er galt als "streng", und ich hatte Glück, weil ich seine nach rechts drängende Schrift fast perfekt imitieren konnte – es machte ihn rasend, wenn man anders schrieb als er – und weil ich zu den Besten der Klasse gehörte. Der Lehrer riet meinen Eltern trotzdem, mich nicht aufs Gymnasium zu schicken, ich sei noch zu klein, so argumentierte er. Ich war tatsächlich die Kleinste der Klasse. Die Schülerinnen und Schüler, die seiner Meinung nach reif genug waren fürs Gymnasium, stammten alle aus reichem Haus, und der Lehrer bereitete sie in Extrastunden auf die Übertrittsprüfung vor. Für mich war dennoch klar, dass ich die Prüfung wenigstens versuchen wollte, und ich traf mich zum Lernen mit einer Schulfreundin – übrigens die Grösste der Klasse –, welche vom Lehrer auch nicht für förderungswürdig gehalten wurde; sie hatte ein hohles Kreuz, so wie er, und ihre Mutter war geschieden, eine Tatsache, auf die der Lehrer in Schulstunden immer wieder hinwies. Als ich irgendwann später eine Stelle aus "Alice im Wunderland" las, kam es mir so vor, als würde mir jemand in wenigen Sätzen erklären, was die Essenz dieser drei Schuljahre gewesen war. "Die Frage ist", sagte Humpty-Dumpty, "wer der Herr sein soll. Das ist alles."Warum sind Kinder ausländischer Familien an Gymnasien immer noch eine Seltenheit? Die Einwanderer kümmerten sich nicht um die Bildungschancen ihrer Kinder, so heisst eine gängige Antwort. Gerade die Familien, die kulturell benachteiligt und Opfer der sozialen Ungleichheit sind, glaubten am stärksten daran, dass Begabung und Tüchtigkeit die einzig Ausschlag gebenden Faktoren für den Schulerfolg seien, schreibt der Soziologe Pierre Bourdieu – was sicher nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Manche Lehrer scheinen immer noch nicht begriffen zu haben, dass jedes Fach sprachlich vermittelt wird. Eltern, die in der Gesellschaft privilegierte Positionen haben, treten gegenüber einer Lehrperson selbstbewusst auf, wogegen nichts einzuwenden ist, ausser, wenn es die Lehrperson derart beeinflusst, dass sie das betreffende Kind in der Folge anders behandelt.  

Fremd gehen - mit der Sprache

Die Frage nach meiner Herkunft habe ich in jüngster Vergangenheit mit "eine ungarische Serbin, die in der Schweiz lebt", beantwortet. Diese Bezeichnung ist so präzise, dass sie in Bezug auf nationalstaatliche Einengungen unüberhörbar ironisch ist, sprachlich jedoch ist sie ein Bekenntnis zur Mehrsprachigkeit und, um noch ein bisschen weiter zu gehen, ein Bekenntnis zur Vielstimmigkeit, die ich in meinem Roman "Tauben fliegen auf " herauszuarbeiten versucht habe.Mit Leidenschaft habe ich ungarische Redewendungen ins Deutsche übertragen. Schlechte Laune haben heisst dann, der Tag muss heute ohne mich auskommen, oder: heute habe ich die Laune eines alten Hundes.Bei Marieluise Fleissers Prosa war von bayrischer Diktion die Rede, mir würde gefallen, wenn man, in Analogie dazu, bei meiner Prosa von Jugo-Diktion und finno-ugrischer Diktion, von mehrsprachiger Polyphonie spräche; mir ist daran gelegen, dass man meine Figuren hört, wie sie sprechen, egal, wo sie herkommen. Es scheint mir nichts als logisch zu sein, dass ich als Dichterin den Leuten auf Maul schaue, und ich freue mich, wenn ich spitzmäulige Münder sehe, die "Chrüsimüsi" sagen oder "chrümschele". Ich habe auch keinen Schweissausbruch allein wegen der Tatsache, dass man im Hochdeutschen "Gemüse putzen" und nicht "Gemüse rüsten" sagt. Trotz meinem Interesse am mündlichen Ausdruck, an der Figurenrede, habe ich eine Kunstsprache kreiert, nicht zuletzt auch deshalb, weil ich nicht weiss, wie ich das Stammeln, mehrfach abgebrochene Sätze, und vor allem das Schweigen und rollende Augen aufs Papier bringen soll. Als Kunstsprachliebende klopfe ich nun Wörter ab – warum sollen Begriffe wie "Balkankrieg" fraglos existieren, als gehörte Balkan und Krieg fast schon auf eine natürliche Art zusammen. Ich schreibe Sätze wie "ich ärgere mich, über sie, die ich bin", und man könnte schlussfolgern, dass ich mit dieser Art von Sprachbewegung einen Entfremdungsprozess auf den Punkt bringe.Es liegt also auf der Hand, dass mich Begriffe wie "Helvetismus", "Austriazismus" etc. mehr als irritieren. Ich habe nämlich kein Sprachideal (ausser vielleicht, dass es schön ist, beglückend, wenn Sprache, das Sprechen, hartnäckiges Schweigen durchbricht). Ich bin zugegebenermassen mehr als vorsichtig, wenn man eine sprachliche Klassengesellschaft herstellen möchte – immer noch! –, ich habe nichts übrig für eine deutsche Sprachleitkultur, ich liebe, wie schon gesagt, Färbungen, Tonalitäten. Dein Deutsch klingt wie Ungarisch und untergründig höre ich eine schweizerdeutsche Melodie, sagte meine Schwester über mein Schreiben, und das habe ich als Kompliment verstanden.Migration, Fremdsein, Anpassung, Integration – das sind alles Begriffe, die ich in meinem Text gar nicht oder nie unkommentiert gebraucht habe. In der Rezeption des Romans tauchen sie sehr häufig auf.

Zum Abschluss: der Stuhl sieht uns

Ich plädiere für eine Gesellschaft, die deren Vielfalt anerkennt. Ich distanziere mich vom Begriff "Integration" und von altbackenen Integrationskonzepten, die eine Anpassungsleistung der ausländischen Bevölkerung an die einheimische verlangen; die defizitär abgestempelten Ausländer sollen Sprachkurse besuchen, sich schulen im Wissen um "einheimische Werte". Hierbei ist natürlich unklar, wo gerade der perfekte Durchschnittsdeutsche rumspaziert, der dem patriarchalen, ausländischen Vater zum idealen Vorbild gereicht. Migrationskinder sind per definitionem prügelnde Jungs oder passive, Kopftuch tragende Mädchen, wenn sie nicht bilinguale Kinder sind, die "unsere Gesellschaft" bereichern, wie neulich eine Schweizer Wochenzeitung titelte und damit einmal mehr, auch wenn es positiv gemeint war, die Differenz zwischen einem "wir" und den "anderen" festgeschrieben hat. "Unsere Gesellschaft" existiert nicht und hat noch nie existiert, davon gehe ich aus, und dass in der Schweiz, einem international verflochtenen Kleinstaat, eine straff organisierte, Ressentiments schürende Truppe den Ton angibt, Ressentiments gegen die Ausländer schürt (jüngstes, sprechendes Beispiel: die "Ausschaffungsinitiative") und dabei demokratische Grundwerte aushöhlt – das ist alles andere als beruhigend, und dabei ist die Schweiz nur ein Beispiel für die gegenwärtigen Ideologen, die rückwärts in die Zukunft rennen wollen.

Melinda Nadj Abonji
Veröffentlicht in: SPRITZ (Sprache im Technischen Zeitalter). No. 198, Berlin 2011. Ein Auszug daraus erschien in der Süddeutschen Zeitung im März 2011.

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